„Erlauben Sie mir, Sie einzuladen. Zu einem richtigen Abendessen habe ich leider kein Geld. Zu einem Glas Rosé und einem Stück Pizza. Setzen Sie sich bitte zu mir! Was möchten Sie am liebsten vor sich sehen? Wie man die Pizza bäckt auf dem offenen Feuer? Dann setzen Sie sich neben mich. Den alten Hafen? Dann besser mir gegenüber. Sie können die Sonne untergehen sehen hinter dem Fort Saint-Nicolas. Das wird Sie sicher nicht langweilen.“1
Anna Seghers’ 1944 erschienener Roman Transit beginnt mit schlechten Nachrichten. Der Protagonist erreicht auf seiner Flucht aus einem Konzentrationslager endlich den Hafen von Marseille. Dort aber ereilt ihn das Gerücht, dass ein Schiff mit dem Namen „Montreal“ auf eine Landmine gelaufen und samt seiner Passagiere, darunter Flüchtlinge, gesunken sei. Gleich zu Anfang scheint jede Hoffnung, einen im Faschismus versinkenden Kontinent zu verlassen, zerschlagen. Und der Leser mag mutmaßen, ob der Titel des Romans statt Transit nicht besser Terminus lauten sollte.
Zum Glück wird die Hiobsnachricht kurz darauf durch eine frohe Botschaft gelindert: Wie wir aus der oben zitierten Passage entnehmen können, besticht das Marseille der 1940er Jahre mit einer wohl-etablierten Pizza-Kultur. Und mitten im Alten Hafen gibt’s ein Stück davon wohlfeil für all diejenigen, die sich angesichts eines schmalen Geldbeutels und eines leeren Magens dazu genötigt sehen, eine „richtige Mahlzeit“ durch einen schnellen Gaumenschmaus zu ersetzen – Seeleute, Hafenarbeiter oder eben Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland. Für Seghers’ Protagonisten freilich ist der herzhafte Kuchen ein unerwartetes kulinarisches Abenteuer:
„Die Pizza ist doch ein sonderbares Gebäck. Rund und bunt wie eine Torte. Man erwartet etwas Süßes, da beißt man auf Pfeffer. Man sieht sich das Ding näher an, da merkt man, dass es gar nicht mit Kirschen und Rosinen gespickt ist, sondern mit Paprika und Oliven. Man gewöhnt sich daran.“2
Selbstverständlich war ich auf das Abenteuer etwas besser vorbereitet, als ich nach der Pandemie aus Deutschland nach Marseille kam. Nicht nur war ich bestens vertraut mit der trostspendenden Gewohnheit, eine ordentliche Mahlzeit durch herzhaften Kuchen zu ersetzen; sondern ich hatte auch die Marseille-Folge meiner Lieblingsserie Parts Unknown gesehen. Ich war bezaubert davon, wie Anthony Bourdain und sein in Frankreich gebürtiger Kumpel Eric Ripert einen Pizza-Wagen kapern um ihr internationales Publikum mit der Tatsache vertraut zu machen, dass Marseilles kulinarische Landschaft eine zugänglichere Einstiegsstelle hat als jene Fischsuppe namens Bouillabaisse, die man im Voraus bestellen sollte und für die man ebenso viel zu berappen hat wie für eine Nacht in einem bettwanzenfreien Hotel, zumindest wenn man keine Fischvergiftung riskieren will.
Ohne Bourdain hätte ich eine Weile gebraucht um zu verstehen, welch wichtige Rolle Pizza in der gastronomischen Infrastruktur dieser Stadt spielt. Sie ist ebenso unauffällig wie unverzichtbar. Dies gilt umso mehr, da Marseille bis heute unter einer sonderbaren Knappheit an Straßenimbissangeboten leidet. Vielleicht ist es die nationale Hegemonie der französischen Etikette, die gebietet: Eine ordentliche Mahlzeit nimmt man bei Tisch ein.
Bouillabaisse, Soup au Pistou, Panisses, Pieds Paquets oder Daube – keine dieser lokalen Spezialitäten lässt sich unterwegs verköstigen. Und selbst wo Marseille sich international gibt – mit den billigen Burger-Restaurants, French-Taco-Buden oder Berliner Kebab-Salons, die in den letzten Jahrzehnten wie Pilze aus dem Boden geschossen sind –, ein schneller Imbiss bleibt eine weitgehend sesshafte Angelegenheit. Hierzulande wird ein Sandwich auf einem Teller serviert, mit Sauce und einer obligatorischen Portion mysteriös matschiger Fritten.
Zu alledem setzt Marseilles Pizza einen willkommenen Kontrapunkt. Wie in New York kann man sie sich stückweise gönnen. Such dir eins aus und ab geht’s für ein paar Sekunden zurück in den Ofen – eine hervorragende Gelegenheit für einen kleinen Schnack mit dem Pizzaiolo. Der legt dein Stück, wenn’s wieder rauskommt, auf ein mit Serviette eingeschlagenes Papier und überreicht es dir mit der einen Hand, während er mit der anderen ein, zwei Münzen von dir entgegennimmt. Nach diesem kurzen aber fairen Handel ziehst du, mit einer appetitlich triefenden Köstlichkeit in Händen, genüsslich deines Weges. Wenn du mal mehr brauchst, gibt’s reichlich Pizzerien in der Stadt, die dir, stationär oder ambulant, einen ganzen Fladen verkaufen.
Mein Lieblingsetablissement im Ganzfladengeschäft hat den klingenden Namen Casa Pizza und befindet sich in der Rue Breteuil, einer schmalen aber starkbefahrenen Straße hinauf in den Stadtteil Vauban. Was die Casa auszeichnet, sind ihr unprätentiöser Charme sowie die handwerkliche Hingabe und kompromisslose Einstellung der Typen, die den Laden schmeißen.
Geöffnet von 18:30 Uhr bis 22 Uhr, sieben Tage die Woche. Abgesehen vom obligatorischen Congé Annuel (Sommerferien im August) nehmen sich die Jungs praktisch keinen Tag im Jahr frei. Tagtäglich formt und belegt derselbe Pizzaiolo die Pizzen und schießt sie in den Ofen. Wenige Sekunden später zieht sie sein immergleicher Kollege mit derselben Schaufel wieder heraus, schleudert sie in einen Pizzakarton, fertig zur Auslieferung. Die Arbeitsethik ist atemberaubend, kein Tag wird versäumt, nie krankgefeiert. Anscheinend profitiert man hier von der gesunden Wirkung einer holzbefeuerten Sauna mit Aufguss aus Hefeteig, Käse und dem gewissen je ne sais quoi einer wohlkomponierten Pizza.
An besonders geschäftigen Tagen haben die beiden die Unterstützung eines weiteren Pizzaiolo sowie eines zusätzlichen Knaben, der mithilfe zweier Spiralkabeltelefone Bestellungen simultan entgegennimmt wie ein Börsenmakler in den Achtzigern Kaufempfehlungen. Auch sonst ist die Casa ein Börsenparkett für Pizzalieferungen; man befehligt eine ganze Armada an Motorrollern. Und eine Truppe Halbstarker, kaum alt genug für einen Rollerführerschein, schwirrt mit Helm und Isoliertasche ausgerüstet ununterbrochen ein und aus.
Bei meinem letzten Besuch fasste ich mir ein Herz und bat den Pizzaiolo um ein kurzes Interview. Beinahe überrascht bin ich, wie bereitwillig er beiseitetritt, seine schier endlose Pizzaformroutine links liegen lässt und sich aufrichtig anschickt, jede einzelne meiner neugierigen Fragen zu beantworten.
Stolz gesteht er mir, er sei, ganz wie seine Pizza, „Made in Marseille“. Im zarten Alter von 17 Jahren habe er als Pizzabäcker begonnen, weil er lieber einen richtigen Beruf ergreifen wollte als in der Armee zu dienen. Seine aktuelle Tätigkeit bei Casa trat er mit 21 an. Wenn wir annehmen, dass er heute etwa doppelt so alt ist, spielt er bereits seit über zwei Jahrzehnten dieselbe wunderbare Rolle, die ihm auf den Leib geschneidert ist. Genau diese Hingabe ist’s, die echtes Handwerk ausmacht! Er sagt, er habe keine Ahnung, wie viele Pizzen er schon gebacken hat, aber sicher sind’s über eine Million. Die Nominaltemperatur des Ofens beträgt 450 Gard Celsius; dafür brauchts kein Thermometer, der Profi kann es an der Farbe der Steine im Ofen erkennen, wenn die richtige Hitze erreicht ist.
Trotz all seiner Erfahrung kann mir mein Pizzaiolo nicht sagen, was genau die Pizza in Marseille so besonders macht. „Ich weiß es nicht zu sagen. Sie unterscheidet sich einfach irgendwie von der Pizza anderswo auf der Welt. Etwas weniger luftig als die in Italien. Anfangs hatten wir weniger als 10 verschiedene Sorten. Heute sind’s fast 40.“
Wenn Sie jemals nach Marseille kommen, schauen Sie sich auf jeden Fall den alten Hafen an. Und klar, sehen sie sich an, wie die Sonne untergeht hinter dem Fort Saint-Nicolas. Aber bitte, lassen Sie es sich nicht entgehen, die echte Marseiller Pizza zu kosten. Nutzen Sie die Gelegenheit zu erleben, wie man Pizza bäckt auf dem offenen Feuer. Es gibt kaum einen tröstlicheren Anblick auf dieser Welt.
